Kürzlich hatte ich einmal wieder die Muße, meine Lautsprecher in die Position zum konzentrierten Hören zu fahren und mit meiner AVM-Anlage zu hören. Zum Ende meiner Hörsitzung spielte ich folgende CD:
Es ging eigentlich um einen Interpretationsvergleich der eher weniger bekannten Sonate op. 22. Zum Schluss der Hörsitzung kam ich auf die spontane Idee: Stöpsele doch mal das Lautsprecherkabel um in die alte Anlage! Ich weiß natürlich, wie der Hörvergleich von alter und „neuerer“ Elektronik (sie ist ja auch schon in die Jahre gekommen ) immer wieder ausgeht. Doch das Ergebnis war für mich überraschend, was sehr schön zeigt, wie komplex so eine alltägliche Hörsituation ist und warum solche Eindrücke schwer unter „objektiven“, abstraktiven und „wissenschaftlich“ verwertbaren Bedingungen nachvollziehbar sind. Gleichwohl ist die Erfahrung hier evident – woran es auch nichts zu deuteln gibt, außer für einen überspannten Skeptizismus, der aus dem Vertrauensverlust in die eigenen Wahrnehmungen und die Fähigkeit, sie zuverlässig zu beurteilen, resultiert. Ich berichte das alles einmal ausführlicher, weil die meisten Forums-Diskussionen zum Thema in der Regel rechthaberische „Phantom“-Diskussionen mit dem Austausch der bekannten stereotypen Argumente sind, die mit der Art, wie wir tatsächlich Musik hören und unsere Anlage dabei „bewerten“, meist so gut wie gar nichts mehr zu tun haben. Dieses Beispiel ist deshalb so interessant, weil wir im Normalfall, wenn wir Musik hören, eben nicht wie ein Testhörer irgendeinen Klang oder eine Klangeigenschaft isoliert „begutachten“, sondern was uns auffällt, hat sehr konkret mit der ästhetischen Qualität der interpretierten Musik und ihrer veränderten Wahrnehmung zu tun. Abstrakte Hörvergleiche kann man letztlich auch mit Geräuschen machen, hier geht es aber um Musik und wie sich eine bestimmte Eigenschaft – die „Lebendigkeit“ der Elektronik – auf die Erfassung ihrer ästhetischen Qualität auswirkt und nur so überhaupt auffällig wird.
Dazu muss ich zu Beginn etwas ausholen, denn der überraschende Eindruck hat etwas mit der besonderen Qualität von Maurizio Pollinis grandioser Interpretation dieser Beethoven-Klaviersonate zu tun. Interpretationsbedürftig ist das Allegro con brio dieser eher „spielerischen“ Sonate Nr. 11 op. 22. Beethoven gebraucht die Bezeichnung „con brio“ (wörtlich: „mit Feuer“) fast schon inflationär häufig für die verschiedensten Satz-Charaktere, so dass die Vermutung nahe liegt, dass die Bezeichnung allgemein die Forderung eines „empfindsamen“ Vortrags im Sinne des 18. Jhd. ist, eines beseelten, ausdruckserfüllten Spiels, also nicht unbedingt auf ein „Stürmen und Drängen“ festgelegt werden kann. Das Besondere an Pollinis Interpretation ist, dass er das Con-Brio-„Feuer“, einen Bewegungsdrang innerer Aufgewühltheit, nicht nur im Sonatenallegro auslebt und ihm damit die spielerische Harmlosigkeit nimmt, sondern dieses auf die ganze Sonate, also alle vier Sätze, als alles durchziehende Grundstimmung ausdehnt. Das verlangt nun allerdings einen höchst schwierigen Balanceakt, denn der zweite Satz Adagio con molto espressione muss im Charakter mit der Allegro-Bewegtheit kontrastieren im Sinne der Folge Bewegung-Ruhe. Wie Pollini dieses Kunststück gelingt, trotz des erhöhten Bewegungspulses die ruhige Stimmung nicht zu zerstören, ist eine Meisterleistung – eben die eines wirklich großen Interpreten.
Genau auf diese zerbrechliche „Balance“ zwischen Bewegung und Ruhe im langsamen Satz reagiert nun gleichsam das Umschalten der Elektronik. Mit der alten Anlage (Yamaha-Vollverstärker plus CD-Player von Marantz) klingt Pollinis Vortrag deutlich „betuhlicher“, fast schon ein wenig spannungslos und langweilig. Schaltet man dann auf die AVM-Anlage zurück, meint man plötzlich, einen ganz anderen Vortrag zu hören: viel dynamischer und vor allem: das Tempogefühl ändert sich. Man bekommt mit der AVM-Anlage gehört den Eindruck, Pollini nehme den Satz irgendwie schneller. Das ist nun weniger paradox, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Von Henri Bergson stammt die berühmte Unterscheidung von physikalisch gemessener Zeit (frz. „temps“) und Erlebniszeit, der Empfindung von „Dauer“ (frz. durée). Natürlich ist die objektiv gemessene Zeit in beiden Fällen identisch – aber eben nicht die erlebte Zeit-Dauer, deren Wahrnehmung u.a. maßgeblich durch die Dynamik der Wiedergabe beeinflusst wird. Man sieht, wie hier ein Quäntchen mehr an „Lebendigkeit“, verursacht durch die Elektronik, das ästhetische Gleichgewicht von Bewegung-Ruhe deutlich zugunsten der Bewegung verschiebt und zugleich die Zeitwahrnehmung entscheidend verändert. Also: kleine Ursache – große Wirkung! Genau deswegen ist auch die rein messtechnische Argumentation so verfehlt, die Unterschiede seien messbar ja so winzig klein, weil sie schlicht die Komplexität der Wahrnehmung ausblendet, so tut, als sei unser Ohr eine Art von Messmikrophon. Wir nehmen aber nicht mal „Lebendigkeit“ nur als „reine“ Empfindungsqualität wahr (klanglich lebendig wirken können auch Geräusche, die gar keine Musik sind), sondern diese ist Teil einer komplexen ästhetischen Wahrnehmung, zu der eben auch die Zeitempfindung gehört.
Nun habe ich von dieser Beethoven-Sonate bestimmt mindestens zehn weitere Aufnahmen in meiner Sammlung. Etliche Interpreten nehmen den Satz mehr oder weniger deutlich langsamer. Hier wird der entscheidende Tick mehr Lebendigkeit, welche die Wiedergabe der AVM-Anlage zu bieten hat, gar nicht weiter auffallen, weil es – bei einem sehr ruhigen Tempo – schlicht keine fragile Balance gibt, die sich durch ein klein wenig Mehr an Dynamik in der Wahrnehmung merklich verschieben könnte. Das ist eine wichtige Erfahrung. Man kann sich u.U. durch die CD-Sammlung durchhören und lange keine signifikanten Unterschiede feststellen. Bis dann irgendwann und völlig unberechenbar ein solcher Fall kommt. Genau das sind diejenigen Erfahrungswerte, die man nicht „diskutieren“, sondern nur entweder haben oder nicht haben kann. Sie lassen sich entsprechend auch nur mitteilen, aber nicht „beweisen“. Solche Erfahrungen werden entweder bestätigt durch vergleichbare andere oder eben nicht. Damit muss der Empiriker einfach leben – und das ist auch sehr, sehr gut so.
Schöne Grüße
Holger
Es ging eigentlich um einen Interpretationsvergleich der eher weniger bekannten Sonate op. 22. Zum Schluss der Hörsitzung kam ich auf die spontane Idee: Stöpsele doch mal das Lautsprecherkabel um in die alte Anlage! Ich weiß natürlich, wie der Hörvergleich von alter und „neuerer“ Elektronik (sie ist ja auch schon in die Jahre gekommen ) immer wieder ausgeht. Doch das Ergebnis war für mich überraschend, was sehr schön zeigt, wie komplex so eine alltägliche Hörsituation ist und warum solche Eindrücke schwer unter „objektiven“, abstraktiven und „wissenschaftlich“ verwertbaren Bedingungen nachvollziehbar sind. Gleichwohl ist die Erfahrung hier evident – woran es auch nichts zu deuteln gibt, außer für einen überspannten Skeptizismus, der aus dem Vertrauensverlust in die eigenen Wahrnehmungen und die Fähigkeit, sie zuverlässig zu beurteilen, resultiert. Ich berichte das alles einmal ausführlicher, weil die meisten Forums-Diskussionen zum Thema in der Regel rechthaberische „Phantom“-Diskussionen mit dem Austausch der bekannten stereotypen Argumente sind, die mit der Art, wie wir tatsächlich Musik hören und unsere Anlage dabei „bewerten“, meist so gut wie gar nichts mehr zu tun haben. Dieses Beispiel ist deshalb so interessant, weil wir im Normalfall, wenn wir Musik hören, eben nicht wie ein Testhörer irgendeinen Klang oder eine Klangeigenschaft isoliert „begutachten“, sondern was uns auffällt, hat sehr konkret mit der ästhetischen Qualität der interpretierten Musik und ihrer veränderten Wahrnehmung zu tun. Abstrakte Hörvergleiche kann man letztlich auch mit Geräuschen machen, hier geht es aber um Musik und wie sich eine bestimmte Eigenschaft – die „Lebendigkeit“ der Elektronik – auf die Erfassung ihrer ästhetischen Qualität auswirkt und nur so überhaupt auffällig wird.
Dazu muss ich zu Beginn etwas ausholen, denn der überraschende Eindruck hat etwas mit der besonderen Qualität von Maurizio Pollinis grandioser Interpretation dieser Beethoven-Klaviersonate zu tun. Interpretationsbedürftig ist das Allegro con brio dieser eher „spielerischen“ Sonate Nr. 11 op. 22. Beethoven gebraucht die Bezeichnung „con brio“ (wörtlich: „mit Feuer“) fast schon inflationär häufig für die verschiedensten Satz-Charaktere, so dass die Vermutung nahe liegt, dass die Bezeichnung allgemein die Forderung eines „empfindsamen“ Vortrags im Sinne des 18. Jhd. ist, eines beseelten, ausdruckserfüllten Spiels, also nicht unbedingt auf ein „Stürmen und Drängen“ festgelegt werden kann. Das Besondere an Pollinis Interpretation ist, dass er das Con-Brio-„Feuer“, einen Bewegungsdrang innerer Aufgewühltheit, nicht nur im Sonatenallegro auslebt und ihm damit die spielerische Harmlosigkeit nimmt, sondern dieses auf die ganze Sonate, also alle vier Sätze, als alles durchziehende Grundstimmung ausdehnt. Das verlangt nun allerdings einen höchst schwierigen Balanceakt, denn der zweite Satz Adagio con molto espressione muss im Charakter mit der Allegro-Bewegtheit kontrastieren im Sinne der Folge Bewegung-Ruhe. Wie Pollini dieses Kunststück gelingt, trotz des erhöhten Bewegungspulses die ruhige Stimmung nicht zu zerstören, ist eine Meisterleistung – eben die eines wirklich großen Interpreten.
Genau auf diese zerbrechliche „Balance“ zwischen Bewegung und Ruhe im langsamen Satz reagiert nun gleichsam das Umschalten der Elektronik. Mit der alten Anlage (Yamaha-Vollverstärker plus CD-Player von Marantz) klingt Pollinis Vortrag deutlich „betuhlicher“, fast schon ein wenig spannungslos und langweilig. Schaltet man dann auf die AVM-Anlage zurück, meint man plötzlich, einen ganz anderen Vortrag zu hören: viel dynamischer und vor allem: das Tempogefühl ändert sich. Man bekommt mit der AVM-Anlage gehört den Eindruck, Pollini nehme den Satz irgendwie schneller. Das ist nun weniger paradox, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Von Henri Bergson stammt die berühmte Unterscheidung von physikalisch gemessener Zeit (frz. „temps“) und Erlebniszeit, der Empfindung von „Dauer“ (frz. durée). Natürlich ist die objektiv gemessene Zeit in beiden Fällen identisch – aber eben nicht die erlebte Zeit-Dauer, deren Wahrnehmung u.a. maßgeblich durch die Dynamik der Wiedergabe beeinflusst wird. Man sieht, wie hier ein Quäntchen mehr an „Lebendigkeit“, verursacht durch die Elektronik, das ästhetische Gleichgewicht von Bewegung-Ruhe deutlich zugunsten der Bewegung verschiebt und zugleich die Zeitwahrnehmung entscheidend verändert. Also: kleine Ursache – große Wirkung! Genau deswegen ist auch die rein messtechnische Argumentation so verfehlt, die Unterschiede seien messbar ja so winzig klein, weil sie schlicht die Komplexität der Wahrnehmung ausblendet, so tut, als sei unser Ohr eine Art von Messmikrophon. Wir nehmen aber nicht mal „Lebendigkeit“ nur als „reine“ Empfindungsqualität wahr (klanglich lebendig wirken können auch Geräusche, die gar keine Musik sind), sondern diese ist Teil einer komplexen ästhetischen Wahrnehmung, zu der eben auch die Zeitempfindung gehört.
Nun habe ich von dieser Beethoven-Sonate bestimmt mindestens zehn weitere Aufnahmen in meiner Sammlung. Etliche Interpreten nehmen den Satz mehr oder weniger deutlich langsamer. Hier wird der entscheidende Tick mehr Lebendigkeit, welche die Wiedergabe der AVM-Anlage zu bieten hat, gar nicht weiter auffallen, weil es – bei einem sehr ruhigen Tempo – schlicht keine fragile Balance gibt, die sich durch ein klein wenig Mehr an Dynamik in der Wahrnehmung merklich verschieben könnte. Das ist eine wichtige Erfahrung. Man kann sich u.U. durch die CD-Sammlung durchhören und lange keine signifikanten Unterschiede feststellen. Bis dann irgendwann und völlig unberechenbar ein solcher Fall kommt. Genau das sind diejenigen Erfahrungswerte, die man nicht „diskutieren“, sondern nur entweder haben oder nicht haben kann. Sie lassen sich entsprechend auch nur mitteilen, aber nicht „beweisen“. Solche Erfahrungen werden entweder bestätigt durch vergleichbare andere oder eben nicht. Damit muss der Empiriker einfach leben – und das ist auch sehr, sehr gut so.
Schöne Grüße
Holger
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