Joachim Kaiser verfasste eine Streitschrift („Chopin und die Sonate“, in: Musik-Konzepte Heft 45, 1985) wo er das Paradox der Beliebtheit der Chopin-Sonaten bei den Pianisten und beim Publikum schildert – das gilt besonders für die Sonaten b-moll und h-moll – welcher die Ratlosigkeit und Ablehnung gegenübersteht, die sie durch Musikkritik und Musikwissenschaften immer wieder erfahren haben. Das reizt zu einer Beschäftigung sowohl mit dem Werk als auch der Interpretationsgeschichte. Dieses Thema erschöpfend zu behandeln, dafür ist sicherlich ein Internetforum der falsche Ort. Da es aber wie ich weiß auch in diesem Kreis einige Interessenten für mein Projekt gibt, möchte ich zumindest einen Einblick in seinen „Aufbau“ gewähren.
Mein Chopin-Projekt zieht sich nun über drei Jahre hin. Ein Grund dafür ist die nicht unerhebliche Schwierigkeit, manche unverzichtbaren Aufnahmen zu beschaffen. So habe ich nun endlich ein historisches Tondokument von Arthur de Greef, den Grieg als Interpret seiner Werke über alles schätzte, bestellen können, zum anderen die bei Nimbus-Records erschienene Studioaufnahme von Vlado Perlemuter nach einer vergeblichen Bestellung nun endlich doch bekommen. Eine empfindliche Lücke war Lazar Berman, von dem es zumindest auf dem Papier drei Konzertmitschnitte gibt – zwei ältere aus New York und Moskau sowie einen neueren aus Birmingham (BBC). Sehr froh bin ich, seinen Carnegie-Hall-Mitschnitt nun doch ergattert zu haben – die Interpretation ist eine Sternstunde. Ein Glücksfall ist auch, dass ich nun ein annähernd geschlossenes Bild der russischen Schule bekomme: Dazugekommen sind die Aufnahmen von Grigory Ginsburg sowie solcher prägenden Persönlichkeiten wie Heinrich Neuhaus (Mitschnitt von 1949), dem Lehrer u.a. von Gilels und Richter sowie Yakov Flier, dem Lehrer u.a. von M. Pletnev. Für Ergänzungen und Hinweise auf solche hier nicht erscheinenden besprechungswürdigen Aufnahmen und ihre Beschaffungsmöglichkeit bin ich natürlich dankbar! Etwas schwach vertreten ist z.B. noch die französische Schule, zu der natürlich auch die Türkin I. Biret gehört (sie studierte in Paris bei Nadia Boulanger). Erfreulich: EMI hat inzwischen eine Box mit Aufnahmen von Emil Gilels herausgebracht, darin befindet sich auch die Sonate op. 35. Er hat also eine Studioaufnahme hinterlassen!
Ich bemühe mich gar nicht erst um numerische Vollständigkeit – das wäre von vornherein ein aussichtsloses Unternehmen. Mir geht es vor allem um eine aussagekräftige, repräsentative Auswahl. Die Gruppierung kann selbstverständlich unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen – ich sehe die getroffene Wahl als einen vorläufig getroffenen Komproniß an. Die gut 100 Jahre Interpretationsgeschichte dieser Sonate, die auf Tonträgern dokumentiert ist, zeigt folgendes sehr deutlich: Einfache Klassifizierungsversuche welcher Art auch immer versagen! Es gibt zwar bestimmte Pianistenschulen wie die polnische oder russische. Aber letztlich erweist sich das individuelle Profil des Interpreten als weitaus prägender als seine Abstammung aus einer bestimmten „Schule“. Weit eher lassen sich individuelle Abhängigkeiten erkennen in stilistischen Verwandtschaften zwischen Lehrer und Schüler wie etwa die zwischen Josef Hofmann und Shura Sherkassky. Völlig verfehlt wäre die Annahme, dass es nach dem 2. Weltkrieg einen großen Einschnitt gäbe zwischen einer historischen Aufführungspraxis, die sich an Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierte und einer interpretatorischen Moderne. Aufnahmen wie die von Percy Grainger oder Alexander Brailowsky aus den 20iger und 30iger Jahren zeigen ein sehr modernes Klavierspiel, das seiner Zeit weit voraus ist. Von der Postmoderne-Diskussion kann man sicher lernen, dass der Versuch einer „Metaerzählung“ eine Konstruktion ist: Es gibt auch in diesem Fall weder eine kontinuierliche Einheit, noch so etwas wie eine Fortschrittsteleologie der Interpretationsgeschichte. Sicher, der neusachliche Interpretationsstil ist prägend geworden seit den 60iger Jahren. Aber nicht alle Interpreten liegen auf dieser Linie und es wäre auch eine modernistische Vereinfachung, die „Abweichler“ als obsolete, hoffnungslose Romantiker darstellen zu wollen. Statt ein Interpretationsschema „reguläre Norm“ und „Abweichung“ zugrunde zu legen, wird hier der Vielgestaltigkeit möglicher Interpretationsansätze Rechnung getragen, die durchaus bewusst ihre Quellen in verschiedenen Traditionslinien haben können, die sie ganz individuell zu einer neuen Synthese vereinen.
Die mir vorliegenden Aufnahmen habe ich zuletzt in 17 Gruppen eingeteilt, die noch nicht besprochenen kursiv gesetzt. Die Kriterien sind nicht einheitlich und deshalb auch nicht in jeder Hinsicht konsequent – es gibt also mehr oder weniger glückliche Kompromisse, das ist mir selbstverständlich bewusst! Die Zahlen in Klammern stehen für die Zahl der Aufnahmen (Studio und Konzert) eines Interpreten (mehr als eine).
Noch zu bearbeiten habe ich einiges. Bei Cortot noch nachzutragen: Aufnahmen von 1949 und 1953 sowie die Bearbeitung seiner kommentierten Ausgabe von op. 35. Noch gar nicht gehört habe ich Francois René Duchable.
Mein Chopin-Projekt zieht sich nun über drei Jahre hin. Ein Grund dafür ist die nicht unerhebliche Schwierigkeit, manche unverzichtbaren Aufnahmen zu beschaffen. So habe ich nun endlich ein historisches Tondokument von Arthur de Greef, den Grieg als Interpret seiner Werke über alles schätzte, bestellen können, zum anderen die bei Nimbus-Records erschienene Studioaufnahme von Vlado Perlemuter nach einer vergeblichen Bestellung nun endlich doch bekommen. Eine empfindliche Lücke war Lazar Berman, von dem es zumindest auf dem Papier drei Konzertmitschnitte gibt – zwei ältere aus New York und Moskau sowie einen neueren aus Birmingham (BBC). Sehr froh bin ich, seinen Carnegie-Hall-Mitschnitt nun doch ergattert zu haben – die Interpretation ist eine Sternstunde. Ein Glücksfall ist auch, dass ich nun ein annähernd geschlossenes Bild der russischen Schule bekomme: Dazugekommen sind die Aufnahmen von Grigory Ginsburg sowie solcher prägenden Persönlichkeiten wie Heinrich Neuhaus (Mitschnitt von 1949), dem Lehrer u.a. von Gilels und Richter sowie Yakov Flier, dem Lehrer u.a. von M. Pletnev. Für Ergänzungen und Hinweise auf solche hier nicht erscheinenden besprechungswürdigen Aufnahmen und ihre Beschaffungsmöglichkeit bin ich natürlich dankbar! Etwas schwach vertreten ist z.B. noch die französische Schule, zu der natürlich auch die Türkin I. Biret gehört (sie studierte in Paris bei Nadia Boulanger). Erfreulich: EMI hat inzwischen eine Box mit Aufnahmen von Emil Gilels herausgebracht, darin befindet sich auch die Sonate op. 35. Er hat also eine Studioaufnahme hinterlassen!
Ich bemühe mich gar nicht erst um numerische Vollständigkeit – das wäre von vornherein ein aussichtsloses Unternehmen. Mir geht es vor allem um eine aussagekräftige, repräsentative Auswahl. Die Gruppierung kann selbstverständlich unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen – ich sehe die getroffene Wahl als einen vorläufig getroffenen Komproniß an. Die gut 100 Jahre Interpretationsgeschichte dieser Sonate, die auf Tonträgern dokumentiert ist, zeigt folgendes sehr deutlich: Einfache Klassifizierungsversuche welcher Art auch immer versagen! Es gibt zwar bestimmte Pianistenschulen wie die polnische oder russische. Aber letztlich erweist sich das individuelle Profil des Interpreten als weitaus prägender als seine Abstammung aus einer bestimmten „Schule“. Weit eher lassen sich individuelle Abhängigkeiten erkennen in stilistischen Verwandtschaften zwischen Lehrer und Schüler wie etwa die zwischen Josef Hofmann und Shura Sherkassky. Völlig verfehlt wäre die Annahme, dass es nach dem 2. Weltkrieg einen großen Einschnitt gäbe zwischen einer historischen Aufführungspraxis, die sich an Traditionen des 19. Jahrhunderts orientierte und einer interpretatorischen Moderne. Aufnahmen wie die von Percy Grainger oder Alexander Brailowsky aus den 20iger und 30iger Jahren zeigen ein sehr modernes Klavierspiel, das seiner Zeit weit voraus ist. Von der Postmoderne-Diskussion kann man sicher lernen, dass der Versuch einer „Metaerzählung“ eine Konstruktion ist: Es gibt auch in diesem Fall weder eine kontinuierliche Einheit, noch so etwas wie eine Fortschrittsteleologie der Interpretationsgeschichte. Sicher, der neusachliche Interpretationsstil ist prägend geworden seit den 60iger Jahren. Aber nicht alle Interpreten liegen auf dieser Linie und es wäre auch eine modernistische Vereinfachung, die „Abweichler“ als obsolete, hoffnungslose Romantiker darstellen zu wollen. Statt ein Interpretationsschema „reguläre Norm“ und „Abweichung“ zugrunde zu legen, wird hier der Vielgestaltigkeit möglicher Interpretationsansätze Rechnung getragen, die durchaus bewusst ihre Quellen in verschiedenen Traditionslinien haben können, die sie ganz individuell zu einer neuen Synthese vereinen.
Die mir vorliegenden Aufnahmen habe ich zuletzt in 17 Gruppen eingeteilt, die noch nicht besprochenen kursiv gesetzt. Die Kriterien sind nicht einheitlich und deshalb auch nicht in jeder Hinsicht konsequent – es gibt also mehr oder weniger glückliche Kompromisse, das ist mir selbstverständlich bewusst! Die Zahlen in Klammern stehen für die Zahl der Aufnahmen (Studio und Konzert) eines Interpreten (mehr als eine).
Noch zu bearbeiten habe ich einiges. Bei Cortot noch nachzutragen: Aufnahmen von 1949 und 1953 sowie die Bearbeitung seiner kommentierten Ausgabe von op. 35. Noch gar nicht gehört habe ich Francois René Duchable.
Kommentar