An der Wegscheide
«The Complete On The Corner Sessions» von Miles Davis
Die Veröffentlichung der «Complete On The Corner Sessions» zeigt, wie weit Miles Davis sich im Sommer 1972 von der Welt des konventionellen Jazz entfernt hatte. Auf der Suche nach der zerfallenen schwarzen Community bereitete er den Boden für Hip-Hop und Techno.
Stefan Hentz
Es gab eine Zeit, so berichtet der Saxofonist David Liebman, da hörte Miles Davis immer nur ganz neue Musik. Nur das Aktuellste, nichts, was älter war als vielleicht vierzehn Tage: Popmusik, R'n'B, neue klassische Musik. Jimi Hendrix war schon tot, es blieben Sly Stone und Karlheinz Stockhausen. Und unendlich viele fremdartige Musiken aus Regionen auf der Weltkarte, aus denen bis kurz zuvor kaum ein Ton bis in den Westen gedrungen war. Jazz dagegen gehörte in jener Zeit eher nicht zu Davis' Interessensgebieten. Er langweilte ihn, wie alles Vergangene.
Jahre hatte Miles Davis gebraucht, um sich vom Jazz zu emanzipieren und es auch noch mit dem letzten unter den Jazzkritikern zu verderben, denen er zuvor Schutz vor den Stürmen des Free Jazz und der Rohheit des Rock geboten hatte. Erst liess er seine Pianisten plötzlich E-Piano spielen, drückte dem Bassisten einen E-Bass in die Hand und hiess ihn, nur ein kurzes ostinates Motiv zu spielen. Dann strich er die ganzen Harmoniewechsel aus den Kompositionen heraus, vergrösserte die Rhythmusgruppen und dampfte die melodischen Bögen in seiner Musik zu kurzen und noch kürzeren Floskeln ein, bis von der Musik nur noch ein rhythmisches Brodeln geblieben war, aus dem hin und wieder ein störrischer dissonant-melodischer Rest hervorragte: «Bitches Brew» – mit dem Jazz, wie man ihn kannte, hatte das nicht mehr viel zu tun. Kommerz, riefen dessen verschmähte Verteidiger. Selten wurde eine seltsamere Musik als kommerziell apostrophiert. Doch erfolgreich war sie – und Miles Davis nicht lange zufrieden: Ihm war diese Musik zu rockig, zu weiss. Er träumte von einer Musik, die sich moderner Soundtechnik und abstrakter Kompositionsverfahren bediente, dazu einer breiten Palette von Rhythmen, die so mitreissend wie der heisseste Funk und so entgrenzend wie archaische Ritualmusik sein sollte. Eine Musik, die an einen verlassenen Ort zurückkehrt: «on the corner», mitten in die schwarze Community.
Im Juni und Juli 1972 versammelte Davis eine grössere Gruppe von Musikern im Studio in New York und liess sie spielen. Die Vorgaben? Minimal. Eine Harmonie, eine Bassfigur, viel Zeit – mehr nicht. Vielleicht ein Groove, den er mit dem britischen Avantgarde-Komponisten Paul Buckmaster, der in jenen Wochen bei ihm zu Gast war, entwickelt hatte. Die Band bespielte etliche Stunden Bandmaterial. Aus diesen Bändern bastelte Davis mit seinem Produzenten Teo Macero anschliessend im bewährten Cut-and-Paste-Verfahren das Material für die LP «On the Corner», die beim Jazzpublikum auf heftigste Widerstände stiess.
Keine Form, kein Inhalt, kein Swing, so fasste Stan Getz die Einwände zusammen. Die Veröffentlichung von «The Complete On The Corner Sessions», der jüngsten der historisch-kritischen Prachtkassetten mit 407 Minuten zum Teil bisher unveröffentlichter Musik auf 6 CD und einem ausführlichen Booklet, mit denen Sony ihren Bestand an Davis-Aufnahmen aufbereitet, zeigt, dass Getz recht hatte. Alles, was er bemängelte, war ganz offenbar nicht vorgesehen: Form und Inhalt im konventionellen Sinn sind aufgegeben, Melodien bis aufs Skelett abgemagert, harmonische Fortschreitung nicht vorgesehen, solistische Improvisation in den Hintergrund verlegt. Stattdessen regiert über lange Strecken der Groove, durchaus raffinierte, polyrhythmische Überlagerungen und Verzahnungen von Akzenten auf vielfältigen Perkussionsinstrumenten.
Offenbar hat Davis mit dieser Musik – mit der Musik in der «extended version» der neuen Ausgabe – Entwicklungen vorweggenommen, die erst viel später im Umfeld von Hip-Hop und Techno zu ihrem Recht kamen: den Übergang vom Song zum Track, die Rehabilitierung von Tanz und Trance, der Umzug vom Konzertsaal in die Community. Die Suspendierung des Fortschritts und der Vergangenheit zugunsten einer musikalisch transzendenten Gegenwart. Was seinerzeit in der Collagen-Variante einer einzigen LP zwangsläufig floppte, wird mit «The Complete On The Corner Sessions» als der utopische Entwurf einer ganz anderen Musik hörbar, von dem Davis in jenem Sommer 1972 träumte.
Miles Davis: The Complete On The Corner Sessions. In Prägedruck gestaltete Hardcover-Box mit 6 CD und 120-seitigem Booklet mit zahlreichen Fotografien (Sony).
quelle http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur..._1.653271.html
«The Complete On The Corner Sessions» von Miles Davis
Die Veröffentlichung der «Complete On The Corner Sessions» zeigt, wie weit Miles Davis sich im Sommer 1972 von der Welt des konventionellen Jazz entfernt hatte. Auf der Suche nach der zerfallenen schwarzen Community bereitete er den Boden für Hip-Hop und Techno.
Stefan Hentz
Es gab eine Zeit, so berichtet der Saxofonist David Liebman, da hörte Miles Davis immer nur ganz neue Musik. Nur das Aktuellste, nichts, was älter war als vielleicht vierzehn Tage: Popmusik, R'n'B, neue klassische Musik. Jimi Hendrix war schon tot, es blieben Sly Stone und Karlheinz Stockhausen. Und unendlich viele fremdartige Musiken aus Regionen auf der Weltkarte, aus denen bis kurz zuvor kaum ein Ton bis in den Westen gedrungen war. Jazz dagegen gehörte in jener Zeit eher nicht zu Davis' Interessensgebieten. Er langweilte ihn, wie alles Vergangene.
Jahre hatte Miles Davis gebraucht, um sich vom Jazz zu emanzipieren und es auch noch mit dem letzten unter den Jazzkritikern zu verderben, denen er zuvor Schutz vor den Stürmen des Free Jazz und der Rohheit des Rock geboten hatte. Erst liess er seine Pianisten plötzlich E-Piano spielen, drückte dem Bassisten einen E-Bass in die Hand und hiess ihn, nur ein kurzes ostinates Motiv zu spielen. Dann strich er die ganzen Harmoniewechsel aus den Kompositionen heraus, vergrösserte die Rhythmusgruppen und dampfte die melodischen Bögen in seiner Musik zu kurzen und noch kürzeren Floskeln ein, bis von der Musik nur noch ein rhythmisches Brodeln geblieben war, aus dem hin und wieder ein störrischer dissonant-melodischer Rest hervorragte: «Bitches Brew» – mit dem Jazz, wie man ihn kannte, hatte das nicht mehr viel zu tun. Kommerz, riefen dessen verschmähte Verteidiger. Selten wurde eine seltsamere Musik als kommerziell apostrophiert. Doch erfolgreich war sie – und Miles Davis nicht lange zufrieden: Ihm war diese Musik zu rockig, zu weiss. Er träumte von einer Musik, die sich moderner Soundtechnik und abstrakter Kompositionsverfahren bediente, dazu einer breiten Palette von Rhythmen, die so mitreissend wie der heisseste Funk und so entgrenzend wie archaische Ritualmusik sein sollte. Eine Musik, die an einen verlassenen Ort zurückkehrt: «on the corner», mitten in die schwarze Community.
Im Juni und Juli 1972 versammelte Davis eine grössere Gruppe von Musikern im Studio in New York und liess sie spielen. Die Vorgaben? Minimal. Eine Harmonie, eine Bassfigur, viel Zeit – mehr nicht. Vielleicht ein Groove, den er mit dem britischen Avantgarde-Komponisten Paul Buckmaster, der in jenen Wochen bei ihm zu Gast war, entwickelt hatte. Die Band bespielte etliche Stunden Bandmaterial. Aus diesen Bändern bastelte Davis mit seinem Produzenten Teo Macero anschliessend im bewährten Cut-and-Paste-Verfahren das Material für die LP «On the Corner», die beim Jazzpublikum auf heftigste Widerstände stiess.
Keine Form, kein Inhalt, kein Swing, so fasste Stan Getz die Einwände zusammen. Die Veröffentlichung von «The Complete On The Corner Sessions», der jüngsten der historisch-kritischen Prachtkassetten mit 407 Minuten zum Teil bisher unveröffentlichter Musik auf 6 CD und einem ausführlichen Booklet, mit denen Sony ihren Bestand an Davis-Aufnahmen aufbereitet, zeigt, dass Getz recht hatte. Alles, was er bemängelte, war ganz offenbar nicht vorgesehen: Form und Inhalt im konventionellen Sinn sind aufgegeben, Melodien bis aufs Skelett abgemagert, harmonische Fortschreitung nicht vorgesehen, solistische Improvisation in den Hintergrund verlegt. Stattdessen regiert über lange Strecken der Groove, durchaus raffinierte, polyrhythmische Überlagerungen und Verzahnungen von Akzenten auf vielfältigen Perkussionsinstrumenten.
Offenbar hat Davis mit dieser Musik – mit der Musik in der «extended version» der neuen Ausgabe – Entwicklungen vorweggenommen, die erst viel später im Umfeld von Hip-Hop und Techno zu ihrem Recht kamen: den Übergang vom Song zum Track, die Rehabilitierung von Tanz und Trance, der Umzug vom Konzertsaal in die Community. Die Suspendierung des Fortschritts und der Vergangenheit zugunsten einer musikalisch transzendenten Gegenwart. Was seinerzeit in der Collagen-Variante einer einzigen LP zwangsläufig floppte, wird mit «The Complete On The Corner Sessions» als der utopische Entwurf einer ganz anderen Musik hörbar, von dem Davis in jenem Sommer 1972 träumte.
Miles Davis: The Complete On The Corner Sessions. In Prägedruck gestaltete Hardcover-Box mit 6 CD und 120-seitigem Booklet mit zahlreichen Fotografien (Sony).
quelle http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur..._1.653271.html
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