Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.

Gouldberg-Variationen: Meisterwerk oder Kuriosität ?

Einklappen
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

    #16
    Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
    Warum hat er die von Bach vorgesehen Wiederholungen ausgelassen ? Zugeständnisse an den Markt, der damals nicht mehr als ca. 37 Minuten Barock am Stück vertragen konnte ? Oder schlichte Arroganz gegenüber der Musik; er hielt ja auch Mozart für einen minderwertigen Komponisten.

    Ok, das war jetzt gemein :V

    Was die "Show" angeht: es gibt Künstler, die Aufmerksamkeit dadurch erregen, dass sie ihre Exzentrik öffentlich kultivieren und pflegen. Bei Gould habe ich manchmal den Eindruck, dass er dazu gehört. Andererseits gab es ja auch Spekulationen, dass er am Asperger-Syndrom (einer milden Form des Autismus) gelitten hat; das könnte einige seiner zwanghaften Verhaltensweisen verständlicher machen. Ob man zwanghaftes Verhalten mit Genialität gleichsetzen muss, lasse ich mal dahinstehen.

    Nochmals: ich gönne jedem das Vergnügen, dass er beim Anhören dieser Aufnahmen empfindet und freue mich, wenn er dabei neue musikalische Erkenntnisse macht; für mich ist es eine Qual, dem zuhören zu müssen.
    Hallo Bernd,

    klar, daß so jemand wie Gould polarisiert! Daß Du ihn nicht magst, warum sollst Du das nicht auch so bekennen!? Das ist Dein gutes Recht! Aber im Ernst: Ich mag z.B. den Ivo Pogorelich nicht. Der hat wirklich Show gemacht: erst tritt er als Lümmel auf und dann als Dandy. Für mich ein eiskalter Manirist, der um jeden Preis interessant sein will auf Kosten des Notentextes. Das habe ich bei Gould noch nie erlebt, mangelnden Respekt vor dem Werk! Gould ist finde ich mit Pogorelich nicht zu vergleichen! Ich mag auch nicht alles, was er gemacht hat. Die Brahms-Klavierstücke finde ich toll, die Balladen op. 10 dagegen halte ich für mißlungen.

    Mit den Wiederholungen ist die Sache kompliziert. Wenn man musikwissenschaftliche Literatur liest, kann man eine gewisse Ratlosigkeit feststellen. Warum muß man z.B. eine Sonatenexposition wiederholen? Viele empfinden das als historischen Ballast. So lassen Rubinstein (!) und viele andere bei Chopins b-moll-Sonate (mit dem Trauermarsch) die Expositionswiederholung einfach weg. Ich finde das nicht gut, weil es dem Satz das Gewicht nimmt. Aber man kann da als Rechtfertigung lesen: Die Expositionswiederholung stammt aus der Zeit der zweiteiligen Sonatensatzform (Scarlatti!), um die Zäsur in der Mitte zu unterstreichen. Zwischenzeitlich hat sich die Sonate zur dreiteiligen Form (Exposition-Durchführung-Reprise) gewandelt, und da sei sie eigentlich überflüssig. Was soll man dazu sagen? (Es gibt noch andere Erklärungen, die Sachlage ist sehr verwirrend!). Bei Bach kann man sich dieselbe Frage stellen. Die Wiederholung soll die Abgeschlossenheit eines Teiles (einer Variation) unterstreichen. Berauchen wir diese Gedächtnisstütze eigentlich? Wenn ich den Arrau höre, ist mir das alles einfach zu lang. Ich kann auf die Wiederholung gerne verzichten - finde das ohne klarer! Ich glaube die meisten Pianisten heute lassen die Wiederholungen weg (Schiff doch wohl auch?).

    Was ich mit Puritanismus bei Gould meinte: Der Puritaner mag keine Sinnlichkeit, keine "Reize". Goulds Spiel ist absolut >unästhetisch<, ihm kommt es nicht auf einen schönen Ton an, Atmosphäre und irgendwelche dramatischen Wirkungen, die auf Stimmungscharaktären beruhen. Gould verzichtet auf jede Wirkung im Sinne der Erzeugung von ästhetischem >Schein<: Es gibt nur Sein, kein Scheinen. Sein Spiel ist deshalb >trocken<, betont unpianistisch. Deswegen spielt er auch keinen >sinnlichen< Chopin, das geht einfach nicht! Das ist ein Komponist für pianistische Ästheten. Richter spielt das Wohltemperierte Klavier auch unästhetisch, bei Edwin Fischers Aufnahme aus den 30igern erfährt man erst einmal, wie schön auch Bach klingen kann. Ich finde das toll! Das ist wirklich mal eine Alternative zu Gould!

    Apropos Ausdruck: Das Barockzeitalter ist von der musikalischen Rhetorik geprägt. Die hat eine "Figurenlehre" entwickelt über Jahrhunderte, die jeder Komponist - auch Bach - als Handwerkszeug beherrschte. Jeder Figur ist ein ganz bestimmter Affekt zugeordnet, der genau definiert ist, sogar einen Namen besitzt wie z.B. der Ausdruck für Schmerz, der "Passus duriusculus". Rhetorisch ausdrucksvoll spielen darf also ein Bach-Interpret! Das Wesentliche beim Affekt ist immer, daß er von der Rhetorik her als Mittel der Sinnverdeutlichung gedacht ist (musikalische Affekte solllten ursprünglich den Wortausdruck verstärken, Musik wurde als Sprache, als Gesang verstanden), der Ausdruck also immer klar abgegrenzt ist. Die Romantik hat genau das kritisiert: Sie wollte keine Affekte mehr schildern und betont das nicht bestimmte, sondern unbestimmte Gefühl, die dunkle und ahnungsvolle >Stimmung<, die ins Unendliche, Grenzenlose geht. In diesem Sinne gestaltet Goulds Expressivität auch wieder >trocken< und nicht romantisch >naß<: Er gestaltet immer sehr rhetorisch-prägnant die Figuren - das ist letztlich ganz und gar >unromantisch<!

    Über das Asperger-Syndrom gab es gerade eine schöne Sendung in der Reihe "Quarks & Co." mit einer sehr netten und hochintelligenten Studentin, die an dieser Krankheit leidet. Das fand ich sehr erhellend! Aber zu Asperger paßt nicht Goulds Humor und Kommunikationsfreude! Autisten sind humorlos!

    Beste Grüße
    Holger
    Zuletzt geändert von Gast; 30.04.2009, 12:12.

    Kommentar


      #17
      Im Prinzip sind diese standardisierten Wiederholungen in Barock und Klassik nichts als eine formale Konvention. In den seltensten Fällen kann ich da irgendeinen größeren musikalischen Sinn entdecken.
      Deswegen ist Gould ja nicht der einzige, der Wiederholungen weglässt - bei weitem nicht.

      Oft frage ich mich auch, wenn ich selber spiele, ob eine Wiederholung jetzt unbedingt sein muss bzw. was die eigentlich soll an der Stelle. Manchmal finde ich es auch mit Wiederholung interessanter - wenn man z.B. die Wiederholung irgendwie kontrastierend gestalten kann. Das trifft aber meist bei kürzeren Passagen zu.

      Gruß,
      Markus
      Zuletzt geändert von Gast; 30.04.2009, 12:14.

      Kommentar


        #18
        Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
        Ich sehe da einen gewissen Wiederspruch, wenn jemand angeblich ausschließlich der Musik und dem Komponisten zu Liebe spielt und andererseits sich die Freiheit nimmt, die Komposition zu ändern, wie es ihm gefällt, konkret auf bestimmte Wiederholungen zu verzichten, weil sie nicht in sein musikalisches Konzept passen. Auch wenn Bach und andere Komponisten des Barock nicht alles notierten, das was sie notiert haben, schien ihnen doch einigermaßen wichtig zu sein. Oder war damals auch das Spielen von Wiederholungen in das Ermessen des Ausführenden gestellt ?
        Halle Bernd,

        da haben sich unsere Beiträge überschnitten! (Siehe oben!) Sein musikalisches Konzept ist eigentlich nicht ganz gerecht. Die Hermeneutiker haben den Grundsatz aufgestellt, durch die Interpretation eines Werks das Werk unter Umständen besser zu verstehen, als es der Autor selbst verstanden hat. Gould begeht also keine Mißachtung des Werks, wenn er meinte, die in ihm steckende musikalisch-geistige Konzeption besser zu realisieren als es vielleicht der Notentext Bachs zum Ausdruck bringen kann!

        Beste Grüße
        Holger

        Kommentar


          #19
          Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
          Im Prinzip sind diese standardisierten Wiederholungen in Barock und Klassik nichts als eine formale Konvention. In den seltensten Fällen kann ich da irgendeinen größeren musikalischen Sinn entdecken.
          Vielleicht einen rein praktischen: Die Wiederholung einer Exposition gibt dem Zuhörer die Möglichkeit, sich ein Thema genauer einzuprägen und damit seiner Entwicklung im weiteren Satzverlauf besser zu folgen. Natürlich war das zu einer Zeit, als man noch nicht auf Knopfdruck ein paar Takte zurückspringen konnte, wichtiger als heute.

          Das, was wir unter "Werktreue" verstehen, war in der Barockzeit jedenfalls noch kein Thema. Schon allein die lediglich rudimentäre Niederschrift ganzer Stimmen (bezifferter Baß) zeigt, daß hier Eigeninitiative der Interpreten gefragt ist und die Frage nach der genauen und endgültigen Intention des Komponisten kaum sinnvoll zu beantworten ist.

          Glenn Gould macht also sicher nichts falsch. Trotzdem höre ich ihn nicht so gerne, erstens weil mir sein dauerndes Mitsingen auf die Nerven geht uns zweitens weil ich die Wiedergabe von alter Musik auf einem modernen Klavier überhaupt nicht besonders schätze. Dort, wo es geht, bemühe ich sogar, den umgekehrten Weg zu gehen und Aufnahmen mit klassischer Musik auf dem Cembalo zu hören: Mit Haydn, frühem Mozart und z.T. auch Beethoven geht das hervorragend! Als konkretes Beispiel dafür möchte ich die Einspielung von Mozarts Klavierwerken auf diversen historischen Instrumenten durch Siegbert Rampe empfehlen. Ich garantiere, daß das mindestens so spannend ist wie der Wechsel von Gustav Leonhardt zu Glenn Gould.

          Kommentar


            #20
            Zitat von Spalatro Beitrag anzeigen
            Vielleicht einen rein praktischen: Die Wiederholung einer Exposition gibt dem Zuhörer die Möglichkeit, sich ein Thema genauer einzuprägen und damit seiner Entwicklung im weiteren Satzverlauf besser zu folgen. Natürlich war das zu einer Zeit, als man noch nicht auf Knopfdruck ein paar Takte zurückspringen konnte, wichtiger als heute.

            Das, was wir unter "Werktreue" verstehen, war in der Barockzeit jedenfalls noch kein Thema. Schon allein die lediglich rudimentäre Niederschrift ganzer Stimmen (bezifferter Baß) zeigt, daß hier Eigeninitiative der Interpreten gefragt ist und die Frage nach der genauen und endgültigen Intention des Komponisten kaum sinnvoll zu beantworten ist.

            Glenn Gould macht also sicher nichts falsch. Trotzdem höre ich ihn nicht so gerne, erstens weil mir sein dauerndes Mitsingen auf die Nerven geht uns zweitens weil ich die Wiedergabe von alter Musik auf einem modernen Klavier überhaupt nicht besonders schätze. Dort, wo es geht, bemühe ich sogar, den umgekehrten Weg zu gehen und Aufnahmen mit klassischer Musik auf dem Cembalo zu hören: Mit Haydn, frühem Mozart und z.T. auch Beethoven geht das hervorragend! Als konkretes Beispiel dafür möchte ich die Einspielung von Mozarts Klavierwerken auf diversen historischen Instrumenten durch Siegbert Rampe empfehlen. Ich garantiere, daß das mindestens so spannend ist wie der Wechsel von Gustav Leonhardt zu Glenn Gould.
            Hallo Spalatro,

            sehr schön, was Du schreibst! Diese >psychologische< Begründung der Wiederholung kann man oft lesen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ein Thema oder ein Formabschnitt, der wiederholt wird, ist ein >grammatisches< Mittel: Was wiederholt wird, ist für die Syntax bedeutsam, was nicht wiederholt wird, bleibt mit Blick auf die Form, den syntaktischen Aufbau, beiläufig. Deshalb berharren die Puristen auf der Ausführung der Wiederholung: Die Syntax des Werks muß erkennbar bleiben. Das ist ein starkes Argument, was man nicht so leicht von der Hand weisen kann. Da muß man dann genauer den Einzelfall betrachten, ob die Wiederholung syntaktisch bedeutsam ist oder nicht.

            Was Du über die>Werktreue< schreibst, stimmt auch absolut. Daß die Musik überhaupt in der Lage ist, so etwas wie bleibende Werke hervorzubringen, diese Auffassung brauchte lange, sich durchzusetzen, war zu Bachs Zeiten noch gar nicht selbstverständlich.

            Den Hinweis auf das Cembalo finde ich auch sehr passend. Das finde ich spannend, Mozart z.B. auf dem Cembalo zu hören! Das Hammerklavier, was Mozart benutzte, war von dem Klang des Cembalo ja noch nicht so weit weg wie der moderne Konzertflügel! Danke für den schönen Beitrag! :F

            Beste Grüße
            Holger

            Kommentar


              #21
              Es gibt ja noch so einiges an Zwischenentwicklungsstufen zum modernen Flügel hin, nicht nur einfach eine Opposition Cembalo vs. Klavier.

              Im Grunde ist das Cembalo auch kein Vorläufer unseres heutigen Klaviers, sondern eine andere Instrumentengattung. Schließlich werden die Seiten da nicht angeschlagen, sondern angerissen. Ein Vorläufer wäre da schon eher das Clavichord.

              Gruß,
              Markus

              Kommentar


                #22
                Hallo --

                @zatopek:

                Dass Gould nicht "das Wahre" ist, kann ich für seine 55er Einspielung sogar nachvollziehen. Denn da empfinde ich durchaus auch, dass er mit durchweg zu hohem Tempo unterwegs ist. Auch wenn das für seine spätere Version der Goldbergs nicht mehr in dem Maße gilt und bei anderen Werken sowieso nicht pauschal, empfinde ich, wie schon gesagt, diesen häufigen Zug zum irrwitzig Schnellen mittlerweile auch irgendwie "verdächtig", als vordergründiges Spektakel -- zumindest, wenn darauf zu oft zurückgegriffen wird.

                Allerdings, andere wiesen bereits darauf hin: Er ist sicher nicht der einzige Pianist weit und breit, bei dem sich hier Kritik anbringen lässt. Viele andere gerühmte Virtuosen/Interpreten haben offensichtlich ebenfalls den Drang, ihr stupendes pianistisches Können zur Schau zu stellen ... :C (Dem Forum fehlen immer noch die "richtigen" Smilies ... :C)

                Aber auch in die Gegenrichtung, hin zum auffallend (?) Langsamen, ist Gould nicht wirklich der große Außenseiter, wie mir scheint. Man darf bei der diesbezüglichen Einschätzung halt nicht den Fehler machen und "willkürlich" eine Einspielung zum Maßstab erheben, die eindeutig die moderaten bzw. mittleren Tempi präferiert.

                ---

                Thema Instrumentenklang:

                Hin und wieder sind mir auch schon Cembalo-Aufnahmen untergekommen, wo mir der "Sound" gefallen hat. Vermutlich spielt hierbei auch die Tontechnik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Allzu scharf-schneidend darf es für meinen Geschmack jedenfalls nicht sein.

                Was mich aber bei vielen Cembalo-Interpretationen bachscher Musik zusätzlich stört, das ist eben eine "übermäßige" bzw. "unpassende" Agogik, die ich regelmäßig als Störung des Musikflusses empfinde.

                Scheinbar ist diese Spielweise jedoch gerade eine "historisch informierte"?
                Vielleicht spiegelt sich darin auch das Bestreben der Cembalisten, der Begrenztheit des Cembalo-Klangs in Form fehlender Dynamik (bzw. einer höchstens stufig nutzbaren Dynamik) durch den ausgiebigen Gebrauch agogischer Mittel entgegenzuwirken?

                So oder so -- Ich halte es für gut möglich, dass BACH höchstpersönlich G. Goulds Spiel ebenfalls NICHT akzeptabel fände, weil ZU eigenwillig. Wenn die "Historisten" mit ihren Annahmen zu damaligen Gepflogenheiten richtig liegen, müsste er hingegen die Interpretationen vieler heutiger Cembalisten "richtig(er)" finden. Goulds spieltechnische Fähigkeiten sowie die unverkennbar vorhandene Grund-Musikalität würde er aber bestimmt trotzdem anerkennen ... ;)

                Und die Freiheit zu sagen, "MIR gefällt Gould, trotz aller auch von mir gesehenen Fragwürdigkeiten und der Verwendung des 'falschen' Instruments, besser als die allermeisten Konkurrenten", nehme ich mir jedoch ganz unabhängig von solchen Gedankenspielen.

                Zurück zum Instrumentenklang, im Rahmen von Wiedergaben auf einem "modernen" Klavier oder Flügel:

                Was das angeht, gefällt mir nach wie vor der "Sound" vieler Gould-Aufnahmen erheblich besser als der anderer, auch neuerer und tontechnisch "besserer" Aufnahmen.
                Das hängt ganz wesentlich mit den von Gould bevorzugten Steinways zusammen, denke ich. An deren wunderbar farbigen, tendenziell eher klaren, hellen Klang kommen -- bei BACH!, denn der erfordert doch wohl einen anderen "Sound" als etwa Chopin oder gar Rachmaninoff -- die meisten Flügel anderer Einspielungen nicht heran, finde ich. (Subjektiv, ich weiß.)

                Und die Tontechnik unterstützt diese Voraussetzungen durch eine "trockene", sehr direkte Inszenierung des Instruments.

                Dagegen stört mich beispielsweise bei Hewitt (von der ich sogar die Goldberg-CDs besitze..) der sehr volle, "romantisch" üppige Flügel-Sound. Damit tendiert der Klang zum Schweren, Nicht-so-Transparenten. Erschwerend hinzu kommt dann noch der stärkere Pedalgebrauch. (Wohingegen man bei Gould eigentlich nie Pedal "hört", scheint mir.)

                Wieder einmal Geschmacksache, offenbar.


                Grüße

                Bernd
                Zuletzt geändert von Gast; 30.04.2009, 16:00.

                Kommentar


                  #23
                  Hallo Holger,

                  jetzt überschlagen sich die interessanten Themen mal wieder ..

                  Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                  Die Hermeneutiker haben den Grundsatz aufgestellt, durch die Interpretation eines Werks das Werk unter Umständen besser zu verstehen, als es der Autor selbst verstanden hat. Gould begeht also keine Mißachtung des Werks, wenn er meinte, die in ihm steckende musikalisch-geistige Konzeption besser zu realisieren als es vielleicht der Notentext Bachs zum Ausdruck bringen kann!
                  Du erlaubst zwei Einwände ?

                  1. Das hermeneutische Konzept (Gadamers "Wahrheit und Methode" kenne ich natürlich) ist natürlich nicht unproblematisch, kann man doch damit im Grunde alles und auch das Gegenteil damit begründen. Frei nach Goethe: "Im Auslegen seid frisch und munter. Legt ihr´s nicht aus, so legt was unter !" Es mangelt an verbindlichen Kriterien, ob eine Auslegung/Interpretation tatsächlich dem Sinn entspricht oder ob nicht.

                  2. Eine Mißachtung ist es sicherlich nicht, aber übermäßige Hochachtung vor dem geistigen Werk eines Komponisten wird man auch nicht gerade konstatieren können ! Man wird aber unterscheiden müssen zwischen der musikhistorischen -wissenschaftlichen Frage, warum ein Komponist solche Wiederholungen vorgesehen hat und der völlig anders gearteten Frage, ob deren Spielen oder Weglassen künstlerisch zu vertreten ist.

                  Ob Schiff alle Wiederholungen spielt kann ich leider nicht beurteilen. Ich vermute es aber, weil seine Einspielung immerhin über 1:12 h dauert, also bedeutend länger, als die Gould´s.


                  VG,

                  Bernd

                  Kommentar


                    #24
                    @kceenav

                    Hallo Bernd,

                    na wenigstens noch einer, dem bei den Aufnahmen von Gould auch nicht ganz behaglich ist; ich fürchtete schon, ich stünde mit meiner Meinung ganz alleine da.

                    Was du über den Klang der Cembali schreibst, kann ich nachvollziehen obwohl ich eigentlich mit dem Klang grundsätzlich keine Probleme habe. Ich denke, der Umstand, dass sich die Lautstärke nicht so regulieren läßt, wie beim Piano und die sich daraus ergebenden Einschränkungen fördern eher die Phantasie des Interpreten, wenn es darum geht, doch noch irgendwie die Klangfarbe zu variieren.

                    VG, Bernd

                    Kommentar


                      #25
                      Zitat von kceenav Beitrag anzeigen
                      Dass Gould nicht "das Wahre" ist, kann ich für seine 55er Einspielung sogar nachvollziehen. Denn da empfinde ich durchaus auch, dass er mit durchweg zu hohem Tempo unterwegs ist.

                      Allerdings, andere wiesen bereits darauf hin: Er ist sicher nicht der einzige Pianist weit und breit, bei dem sich hier Kritik anbringen lässt.

                      Was mich aber bei vielen Cembalo-Interpretationen bachscher Musik zusätzlich stört, das ist eben eine "übermäßige" bzw. "unpassende" Agogik, die ich regelmäßig als Störung des Musikflusses empfinde.

                      Scheinbar ist diese Spielweise jedoch gerade eine "historisch informierte"?
                      Vielleicht spiegelt sich darin auch das Bestreben der Cembalisten, der Begrenztheit des Cembalo-Klangs in Form fehlender Dynamik (bzw. einer höchstens stufig nutzbaren Dynamik) durch den ausgiebigen Gebrauch agogischer Mittel entgegenzuwirken?

                      So oder so -- Ich halte es für gut möglich, dass BACH höchstpersönlich G. Goulds Spiel ebenfalls NICHT akzeptabel fände, weil ZU eigenwillig.
                      Hallo Bernd,

                      (nun gibt es zwei Bernds, Forums-Zwillinge! ). Das sind interessante Punkte, die Du wieder ansprichst! Wir sind jetzt mitten in der Musikkritik.

                      Erst einmal würde ich da sagen: Man kann das Tempo nicht isoliert beurteilen. Gould hätte nicht einfach einige Tempi der 81iger Aufnahme in die 55iger transportieren können. Das Einzelne ist nämlich immer Teil eines Gesamtkonzepts. Zum Interpretationsansatz der 55iger Aufnahme gehören eben diese zügigen Tempi. Und die sind - das macht die Qualität dieser Aufnahme aus - in sich schlüssig. Man kann nun natürlich beim Interpretationsvergleich sagen: Ja, aber diese Tempi rauben der Musik Bachs einige Dimensionen. Mag sein. Gould hat es in späteren Jahren auch so ähnlich gesehen, er begründet die langsamen Tempi in der späteren Aufnahme im Interview. Trotzdem kann man finde ich diese frühe Aufnahme nicht einfach als "Virtuosenmanier" (ab-)qualifizieren. Natürlich, in der Jugend neigen so ziemlich alle Interpreten zu zügigeren Tempi. Im Alter wird man eben ruhiger - so ist das Leben! Aber diese Tempi erschließen etwas - eine neue Dimension Bachscher Musik, die man vorher nicht kannte. Das ist die bleibende Bedeutung dieser Aufnahme. Man kann nun sagen: Ja, aber aufs Ganze gesehen ist das im Vergleich zu einem anderen Konzept ein etwas eindimensionaler Bach. Auch das mag richtig sein. Aber trotzdem war es eine Pioniertat, die ich nicht missen möchte. Fischer-Dieskau hat mal gesagt: Für Schuberts Lieder reicht eine einzige Aufnahme nicht, um sie auszuschöpfen. So ist das auch hier! Freuen wir uns doch, daß es verschiedene Versionen gibt!

                      Das Thema der Agogik ist interessant, besonders in bezug auf die Cembalisten. Mein Klavierlehrer, der Konzertpianist ist, beklagt sich, daß Pianisten im Studium die barocken Verzierungsregeln und die Agogik nicht lernen. Bei den Cembalisten ist das Standard. So hat er bei einem befreundeten Cembalisten nachträglich "Unterricht" genommen! Das sollte es eigentlich nicht geben - hier ist die Ausbildung an den Konservatorien dringend verbesserungsbedürftig!

                      Was Bach gemeint hätte - das ist sehr spekulativ. Wenn heute jemand Bachs Musik so aufführen würde wie im 18. Jahrhundert, dann würden wir das nicht mehr ertragen können! Die Interpretation verändert sich im Laufe der Geschichte. Was wir bei Bach für richtig halten, ist etwas, was sich als Interpretationsstil in den letzten 150 Jahren herausgebildet hat. Bach müßte, um das zu verstehen, ein anderer Mensch werden!

                      Beste Grüße
                      Holger

                      Kommentar


                        #26
                        Zitat von kceenav Beitrag anzeigen
                        Was mich aber bei vielen Cembalo-Interpretationen bachscher Musik zusätzlich stört, das ist eben eine "übermäßige" bzw. "unpassende" Agogik, die ich regelmäßig als Störung des Musikflusses empfinde
                        Ich verstehe dich da sehr gut - mir gefällt das nämlich auch nicht. Speziell unangenehm aufgefallen sind mir in dieser Hinsicht Bob van Asperen oder Ton Koopman; vielleicht handelt es sich also bei den Agogikern um so etwas wie eine flämische Schule des Cembalospiels. Daß es auch anders geht, zeigen z.B. Trevor Pinnock und Christophe Rousset. Und eine der für mich am meisten unterschätzten Bach-Interpretinnen: Christiane Jaccottet.

                        Zitat von kceenav Beitrag anzeigen
                        Begrenztheit des Cembalo-Klangs in Form fehlender Dynamik (bzw. einer höchstens stufig nutzbaren Dynamik)
                        Das kann man so nicht sagen, denn dieses Problem stellt sich in der Barockmusik gar nicht. Insofern ist das Cembalo für deren Wiedergabe optimal geeignet, es ist sozusagen das native Instrument der barocken Klaviermusik. Das Bedürfnis nach einer feiner abgestuften Dynamik ergab sich erst ab ca. 1750, was ja dann auch zur Entwicklung des "Piano-Fortes" (oder "Forte-Pianos") führte.

                        Kommentar


                          #27
                          Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
                          Du erlaubst zwei Einwände ?

                          1. Das hermeneutische Konzept (Gadamers "Wahrheit und Methode" kenne ich natürlich) ist natürlich nicht unproblematisch, kann man doch damit im Grunde alles und auch das Gegenteil damit begründen. Frei nach Goethe: "Im Auslegen seid frisch und munter. Legt ihr´s nicht aus, so legt was unter !" Es mangelt an verbindlichen Kriterien, ob eine Auslegung/Interpretation tatsächlich dem Sinn entspricht oder ob nicht.

                          2. Eine Mißachtung ist es sicherlich nicht, aber übermäßige Hochachtung vor dem geistigen Werk eines Komponisten wird man auch nicht gerade konstatieren können ! Man wird aber unterscheiden müssen zwischen der musikhistorischen -wissenschaftlichen Frage, warum ein Komponist solche Wiederholungen vorgesehen hat und der völlig anders gearteten Frage, ob deren Spielen oder Weglassen künstlerisch zu vertreten ist.
                          Hallo Bernd,

                          wenn ich mich jetzt nicht gewaltig täusche, stammt dieser Anspruch, ein Werk besser zu verstehen als sein Autor, nicht von Gadamer, sondern von Friedrich Schleiermacher - den die meisten als Platon-Übersetzer kennen, ein bedeutender Philosoph und Theologe, dem wir mit unser modernes Hochschulwesen verdanken. Dahinter steht natürlich die Auffassung, daß das Werk ein autonomes Gebilde verkörpert, daß eben auch nicht (wie bei Dilthey) durch die Biographie des Autors erklärt wird. Man muß eben nicht den Autor verstehen, um das Werk zu verstehen. Das Werk versteht sich von selbst - in derLiteraturwissenschaft nennt man diese Richtung "werkimmanente Interpretation". Dein Einweand beruht also auf einem Mißverständnis. Gadamer hat die "Anwendung" (die subtilitas applicandi) aufgewertet, wodurh sich das Problem der Historisierung des Vertehens ergibt. Das ist aber gerade eine der Werkimmanenz gegenläufige philosophische Tendenz, welche nicht die Autonomie, sondern die Abhängigkeit betont.

                          Bei der Wiederholung gibt es natürlich noch den ästhetischen Aspekt. Viele klassische Werke sind so konzipiert, daß die Sätze ein ausgewogenes Ganzes bilden hinsichtlich der Proportion. Da kann man nicht einfach etwas weglassen, weil sonst die Symmetrien zerstört werden. Das betrifft aber nicht Bach. Ein Variationswerk wie die Goldberg-Variationen ist keine klassische, geschlossene Form. Übrigens lassen viele Interpreten auch bei Schumann die Wiederholungen weg - bei den Variationsformen. Auch darüber kann man trefflich streiten! Andor Foldes, den ich gerade gehört habe, macht das sogar bei Beethovens Sonate op. 10 Nr. 2. Allerdings nicht pauschal, sondern sehr überlegt. Dort, wo sie Expositionscharakter hat, spielt er sie nämlich!

                          :M

                          Beste Grüße
                          Holger

                          Kommentar


                            #28
                            Der Punkt ist nicht, dass sich Gould bezüglich der Tempi eines bessern besonnen hätte bei späteren Aufnahmen, sondern dass Stücke von Bach eben oft in unterschiedlichen Tempi funktionieren können. Das sehe ich doch selber auch immer, wenn ich Bach spiele. Man muss sich halt nur in einem konkreten Fall für ein Tempo entscheiden. Vielleicht entscheidet man sich zwei Wochen später für ein anderes, weil man feststellt, dass auch das gut klingt. Nur hatte man vor zwei Wochen ein Aufnahmegerät mitlaufen und diesmal nicht. Wird diese Aufnahme nun bekannt, könnten natürlich die Zuhörer annehmen, dass auf dieser Aufnahme festzementierte Entscheidungen des Interpreten präsentiert werden, weil sie nicht wissen, wie er das sonst spielt, zu Hause oder wo auch immer.
                            Das sollte man also nicht überbewerten.
                            Hat Gould in seinen (sehr interessanten!) Bach-Sendungen aber auch ausdrücklich gesagt: Das spiele ich mal so, mal so. Geht beides.

                            Gruß,
                            Markus

                            Kommentar


                              #29
                              Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                              Dahinter steht natürlich die Auffassung, daß das Werk ein autonomes Gebilde verkörpert, daß eben auch nicht (wie bei Dilthey) durch die Biographie des Autors erklärt wird. Man muß eben nicht den Autor verstehen, um das Werk zu verstehen. Das Werk versteht sich von selbst - in derLiteraturwissenschaft nennt man diese Richtung "werkimmanente Interpretation".
                              Diesen Ansatz haben ja dann später die Strukturalisten auf die Spitze getrieben.
                              Das kann auch sehr gut funktionieren, wenn es nicht ideologisch wird. Damit meine ich Werkanalyse unter bestimmten weltanschaulichen oder psychologisierenden Vorgaben bzw. Blickwinkeln. Das war ja auch eine Zeit lang sehr en vogue und damit habe ich große Schwierigkeiten.

                              Gruß,
                              Markus

                              Kommentar


                                #30
                                Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
                                Diesen Ansatz haben ja dann später die Strukturalisten auf die Spitze getrieben.
                                Das kann auch sehr gut funktionieren, wenn es nicht ideologisch wird. Damit meine ich Werkanalyse unter bestimmten weltanschaulichen oder psychologisierenden Vorgaben bzw. Blickwinkeln. Das war ja auch eine Zeit lang sehr en vogue und damit habe ich große Schwierigkeiten.
                                Die Strukturalisten haben das in der tat auf die Spitze getrieben. Es gibt nur diesen einen Text und nichts drumherum. Das hat dann Julia Kristeva, als sie nach Paris kam, durch ihr Prinzip der "Intertextualität" korrigiert.

                                Gould spielt übrigens die Aufnahme von 1981 auf einem Yamaha-Flügel. Den hat er gewählt nicht wegen des Klanges, sondern der fabelhaften Mechanik.

                                Habe gerade von ihm die Haydn-Sonate Nr. 52 gehört - die Aufnahme von 1981. Das ist auch wieder betont >unästhetischer< Haydn. Keine Anmut, nichts Leicht-Spielerisches. Da wird ungemein burschikos-direkt musiziert, sehr virtuos im Finale. Aber der langsame Satz ist wunderbar perspektivenreich und empfindsam gespielt. Er ist eben ein wirklich großer Musiker!

                                Beste Grüße
                                Holger
                                Zuletzt geändert von Gast; 30.04.2009, 22:25.

                                Kommentar

                                Lädt...
                                X
                                👍